Ich sags mal gleich vorneweg: Wenn du findest, dass Monogamie unbestreitbar die einzige Variante ist, in der Menschen dauerhaft ihr Leben verbringen sollten, dann… klick weg. Gleiches gilt, wenn du das Patriarchat grundsätzlich cool findest. Oder meinst, dass Menschen aufgrund ihrer Herkunftsgeschichte diskriminiert werden können/sollten.
Also im Grunde solltest du mindestens für die beiden letzten Punkte eh ganz von unserer Seite verschwinden, aber … du bist hier, also wahrscheinlich bist du eher für Feminismus und für eine Welt, in der Herkunftsgeschichten nicht mehr zu Diskriminierung und Rassimus führen. Ne?
Das Buch: Radikale Zärtlichkeit
Es ist keine leichte Kost. Nicht so sehr wegen dem Thema an sich. Sondern weil Şeyda es versteht, ihre vielen Gedanken sehr dicht und komplex zu formulieren. Und das gleichzeitig in einer Form, die möglichst inklusiv ist, eindeutig und klar.
Ein Teil der Gedanken dazu, wie Monogamie, Patriarchat und Rassifizierungen Hand in hand arbeiten, leitet sie aus ihrer eigenen Biografie ab. Ein Teil fließt aus den vorrangig westlichen Philosophien und Strömungen ein (und ja, es IST schon hilfreich, mal was von Platons Kugelmenschen etc. gehört zu haben), und ein Teil sind, wenn ich das so beschreiben darf, ganz klar Şeyda-Gedanken.
Alles zusammen stimmt sehr nachdenklich. Und euphorisch. Denn wie viel besser wäre eine Welt, in der Menschen einfach lieben (dürfen), wen sie wollen? In romantischer und nicht romantischer Absicht. Wenn, um Şeyda frei zu zitieren, die Frage nach “Triffst du dich mit jemandem?” mit einer Liste an Herzensmenschen beantwortet würde – und eben nicht nur mit die-/demjenigen, mit dem mensch sich das Bett und das Konto teilt.
Ich musste das Buch zwischendurch immer mal beiseite packen. Sacken lassen. Durchatmen. Da sind viele Gedanken drin, die ihren Raum brauchen. Mein Tipp beim Lesen wäre deshalb, nicht alles in einem Rutsch lesen zu wollen.
Und… was hat das mit Vereinbarkeit zu tun?
Die Form, wie wir Familie (also der Ort, wo Kinder aufwachsen) organisieren, hat viel damit zu tun, wer wie erwerbsarbeitet – und wer in Abhängigkeiten gerät. Das Modell der Vater-Mutter-Kinder-Kleinfamilie ist patriarchal, die monogame Ausrichtung im Kern entgegen dem, wie Menschen Jahrunderttausende Jahre lang lebten. Sehr erfolgreich lebten, kurz vor dem Klimakollaps stehen wir ja erst erst seit relativ kurzer Zeit. Gleichzeitig ist beides auch im Kern rassistisch – um das zu Verstehen, lies das Buch. Şeyda leitet das sehr klar her.
Wir merken, wie wenig die Kleinfamilie dazu geeignet ist, um zu Arbeiten UND Kinder großzuziehen UND für sich selbst ein glückliches, umfassendes Leben zu führen. Irgendwas bleibt immer auf der Strecke. Irgendwer wird abgehängt. In der Regel sind es die Frauen, die Mütter, die Großmütter.
In Şeydas Utopie einer radikalen Zärtlichkeit ist romantische Liebe zwischen Mann und Frau keine Schablone mehr, auf die alle Lebensentwürfe eingestimmt werden müssen. Es gäbe Verbindungen aus Freundschaft, die viel tragfähiger wären. Menschen, die sich gemeinsam für Kinder entscheiden. Oder auch nicht. Die tagtägliche unendliche Last der Organisation wäre auf mehr Schultern verteilt.
Noch auf den letzten Buchzentimetern hat mich dieser Absatz hier, wie oben im Bild zu lesen, besonders gepackt. Dass wir Zeit linear-kapitalistisch zuteilen (müssen). Und wie erschöpfend das ist. Ständig zwischen Erwerbsarbeit, Familien- und Sorgearbeit, “Freizeit” und “Me-Time” switchen zu müssen. Ohne je einfach nur zu SEIN. Und das wir (tatsächlich!) permanent eine Zeit-Zuteilung gegen andere aufrechnen. Ob wir wollen oder nicht. Weil immer jemensch oder etwas nicht genug Zeit abbekommt.
Şeyda Kurts Ansatz ist im Kern radikal. Zärtlichkeit für jeden, der:ie sie will, Liebe in vielen Facetten, Inklusivität auf allen Ebenen. Der Wunsch danach, mehr Zeit mit den geliebten Menschen zu verbringen – ALLEN, ohne Aufrechnung und Beschränkung auf den:ie Partner:in.
Hy, hier schreibt Sabrina. Freiberuflich als Copywriterin anzutreffen, mit Mann & zwei Kindern in enger Gemeinschaft. Feministisch, bindungsorientiert & zutiefst sarkastisch. Bekennende #coffeeholic