Wie einige von euch sicher schon wissen, arbeite ich an einer Schule in kirchlicher Trägerschaft. Nachdem 2010 der Missbrauchsskandal in der katholischen Kirche öffentlich wurde, hat die Kirche sich auf den Weg gemacht, Maßnahmen gegen sexualisierte Gewalt zu ergreifen. Dazu gehört neben dem erweiterten polizeilichen Führungszeugnis auch eine zweitätige Schulung zur Prävention sexualisierter Gewalt, an der jede_r Mitarbeiter_in im kirchlichen Dienst teilnehmen muss.
Diese Schulung hatte ich nun Anfang Februar. Wir waren ca. 20 Lehrer_innen von unterschiedlichen Schulen und zwei Referenten.
Sexualisierte Gewalt, was ist das überhaupt?
Sexualisierte Gealt meint jede sexuelle Handlung, die an oder vor einem Kind oder einem/einer Jugendlichen entweder gegen dessen/deren Willen vorgenommen wird oder der die Person aufgrund körperlicher, psychischer, kognitiver oder sprachlicher Unterlegenheit nicht wissentlich zustimmen kann.
Diese Definition habe ich aus dem Schulungsmaterial: Hinsehen und Schützen. Informationen zur Prävention gegen sexualisierte Gewalt an Kindern und Jugendlichen.
Es geht nämlich nicht nur um Missbrauch, es geht auch um Grenzvereltzungen und sexuelle Übergriffe, kurz, um ein Klima, in dem sexualisierte Gewalt gar nicht erst entstehen kann.
Die Fakten
- 75% der Missbrauchstäter kommen aus dem engeren Umfeld der Familie, sind Familienmitglieder oder enge Freunde.
- Ein Kind muss im Durchschnitt 8 Menschen ansprechen, bevor ihm geholfen wird.
- Die meisten Täter_innen sind nicht pädosexuell veranlagt. Es geht bei sexualisierter Gewalt eher um Macht.
- ca. 80% der Täter_innen sind Männer. Aber eben auch ca. 20% Frauen.
- ca. 25% der Opfer sind Jungen (auch das wird oft leicht übersehen)
Wie schütze ich mein Kind?
Sehr schön fand ich, dass besonders betont wurde, dass eine liebevolle, bedürfnisorientierte Erziehung hilft, Kinder vor sexuellem Missbrauch zu schützen. Denn das zuverlässige Stillen der Bedürfnisse von Anfang an, ein respektvoller Umgang mit dem Kind und Achtung vor den eigenen und den Grenzen des Kindes helfen, damit das Kind selbstsicher und selbstständig wird. Und dies wiederum führt dazu, dass ein Kind besser gegen Missbrauch geschützt ist, weil es sich eher wehren kann und weil es vor allem weniger Ansatzpunkte für eine_n Täter_in bietet, denn die suchen sich gerne Opfer aus, die nach Anerkennung suchen, weil sie diese sonst nicht erfahren.
Auch ein gendersensibler Umgang mit Kindern hilft, diese zu stärken, denn traditionelle Rollenmuster und -Zuschreibungen zementieren Ungleichheit, was wiederum zu einem Klima führt, in dem sexualisierte Gewalt besser gedeihen kann.
Wichtig ist für mich ein verantwortungsvoller Umgang mit meiner Macht. Denn die habe ich im Umgang mit Kindern automatisch. Ich bin durch die gesellschaftlichen Konventionen und vor allem durch meine Lehrerinnenrolle gegenüber Kindern im Allgemeinen und meinen Schüler_innen im Besonderen in einer Machtposition. Es liegt aber an mir, ob ich verantwortungsbewusst mit dieser Macht umgehe, oder ob ich sie missbrauche. Letzteres kann ich durch kritisches Reflektieren meiner Selbst vermeiden.
Der verantwortungsvolle Umgang mit Macht ist auch deswegen wichtig, weil es entgegen der landläufigen Meinung bei sexualisierter Gewalt gegenüber Kindern und Jugendlichen eben meist um Macht geht und nicht um Pädosexualität. Die spielt zwar auch eine Rolle, aber die meisten Täter sind nicht pädosexuell veranlagt sondern missbrauchen ihre Machtposition gegenüber Kindern und Jugendlichen aus.
Mein persönliches Fazit
Ich habe in dieser Schulung viel gelernt und einiges bestätigt bekommen, was ich schon wusste. Das Thema ist schwierig, denn es wühlt viele Gefühle auf. Mir persönlich ist wichtig, dass ich dennoch nicht die Unbefangenheit im Umgang mit meinen Schüler_innnen verlieren und auch niemanden unter Generalverdacht stellen möchte. Denn beide Risiken sind da. Ich möchte nicht aus Angst vor Verdächtigungen auf eine gute Beziehung zu meinen Schüler_innen verzichten und ich wehre mich dagegen, in jedem Kita-Erzieher gleich einen potentiellen Täter zu sehen.
Als Lehrerin habe ich durch diese Schulung eine weitere Berufsangst hinzugewonnen. Bisher war es nur die Angst vor einem Amoklauf an der Schule. Aber nun habe ich Angst, dass sich mir ein_e Schüler_in anvertrauen könnte. Nicht, weil ich nicht helfen will oder damit nichts zu tun haben möchte. Nein, ich habe Angst, dass ich falsch reagieren könnte. Denn das geht schnell. Und dann ist das Vertrauen erst einmal weg. Ich möchte nicht zu den 7 Personen gehören, die ein Kind anspricht, bevor ihm geholfen wird, ich weiß aber auch nicht, wie ich als Person Nr. 8 mit diesem Wissen und der Verantwortung umgehen würde. Und das macht mir Angst.
Übrigens haben alle Teilnehmer am Ende der Schulung eine Selbstverpflichtungserklärung unterschrieben, in der wir uns verpflichten, aktiv gegen sexualisierte Gewalt Stellung zu beziehen.
Mutter von zwei, Lehrerin, Stadtmensch