Es braucht ein Dorf, um ein Kind aufzuziehen
Altes, afrikanisches Sprichwort über das wir hier ja auch schon geschrieben haben. Sehr beliebt unter allen bindungsorientiert Erziehenden (APlern). Gemeint ist: Kinder aufziehen ist die Angelegenheit der Gesellschaft – nicht einzig die Sache von Mutter und Vater. Die brechen nämlich unter dieser Last zwangsläufig irgendwann zusammen. Siehe: Burn-out bei Müttern und rasant steigende Antragszahlen zu Mutter-/Vater-Kind-Kuren.
Dieses Ding mit den Clans
Was sollen die eigentlich leisten?
- Erziehungsarbeit auf viele Schultern verteilen
- Erfahrungen und Wissen von unterschiedlichen Menschen mit verschiedenen Voraussetzungen (Alter, Beruf/Fachwissen, Geschlecht, Charakter, Temperament…..) vermitteln
- Vereinbarkeit von Erwerbstätigkeit (im weitesten Sinne: Nahrungsbeschaffung!) und Familie möglich machen
Klingt traumhaft, oder? In westlichen Kulturen hat das lange Zeit das Dorf beziehungsweise die Großfamilie übernommen. Bis es die Großfamilie irgendwann nicht mehr gab und Familien sich im Kern auf Eltern plus Kinder beschränkte. Die gesamte Verantwortung für Essen, Schlafen, Bewegung, Spielen, Bildung, Kleidung, Dach überm Kopf und so weiter und so fort – alles bleibt bei eben diesen Eltern hängen.
Nicola und Julia vom Artgerecht Projekt veranstalten seit einiger Zeit artgerecht-Camps: Familien, die im Wald kampieren, interessante (urtümlichere) Tätigkeiten ausführen – und alle gucken auf die Kinder. Auf alle Kinder, nicht nur auf die eigenen. Über Projekte wie Eltern-Kind-Büros, Mehrgenerationenhäuser und zentrale städtische Anlaufstellen (Familienzentren) wird ebenfalls versucht, wenigstens etwas “Clan” zurück in den elterlichen Alltag zu holen. Mit mehr oder weniger gutem Erfolg.
Corinna Knauf hat neulich ein Ratgeber-Manuskript in den virtuellen Papierkorb befördert. Warum? Weil sie der Meinung ist, dass “das Internet” den neuen Clan bildet.
Auch hier gibt es kluge Ratschläge, aber es gibt auch Verständnis, aufmunternde Emoticons und tröstende Worte – nahezu in Echtzeit.[…] Hier werden Erfahrungen ganz unmittelbar geteilt, es wird diskutiert und zusammen überlegt.
Nora Imlau hat dazu übrigens eine klare Antwort verfasst, warum ihrer Meinung nach Ratgeberliteratur keineswegs überholt ist. Beiden Positionen kann ich viel abgewinnen.
Wer in entsprechenden Kreisen (bindungsorientiert/erwerbstätig) unterwegs ist, dem begegnet tatsächlich ein Satz wirklich oft:
Dann musst du ein Netzwerk aufbauen!
Im Sinne: Schaff dir ein tragfähiges, stabiles Netz an Personen, die dir helfen & zuarbeiten. Sowohl beruflich als auch privat als Elternteil. Klingt auch super, oder? Der Beitrag von Corinna brannte bei mir noch etwas nach und ich fragte mich:
Und wenn ich gar keinen Clan will?
Ich halte es tatsächlich für eine Tatsache, dass (meistens die) Mütter allein daheim mit Kind untergehen. Das ist schlicht nicht artgerecht: der Mensch ist eine sozial aufziehende Art. Wir brauchen den Austausch mit unterschiedlichen Altersklassen. Und das Babys sich schon früh fest und sicher an mehr als eine einzige (meist: die Mutter) Person binden können und das auch gerne tun (!), unterstreicht das zusätzlich.
Da stehe ich also als aufgeklärter moderner Mensch vor diesem “artgerecht” Label und frage mich: Bin ich der Typ dafür? Will ich das eigentlich? Erziehungsaufgaben auslagern, Kompetenzen abgeben?
Verdammt, ja!
Aber, und natürlich kommt ein aber: Ich bin nicht der Typ, der freudig neue Menschen kennenlernt. Dieser oben zitierte Satz bringt mich deshalb regelmäßig in Schwierigkeiten. Denn: wie baue ich denn ein Netzwerk auf? Als introvertierter Mensch fällt mir das nicht sonderlich leicht. Ganz im Gegenteil.Darüber grübelte ich also, bis mir aufging: Ich habe bereits ein tragfähiges Netz. Und tatsächlich ist es eher virtuell organisiert – denn meine Freunde und “Netzwerkpartner” sind über ganz Deutschland und teilweise darüber hinaus verteilt. Was für meine Generation – selbst für die, die keine Kinder haben – ziemlich normal ist.
Lösungsansätze: Clan aufbauen
Nach Geburt von Kind 1 habe ich es in 2008/2009 “klassisch” versucht: wir waren in diversen Babykursen und haben eine Mutter-Kind-Gruppe im Ort besucht. Weil’s meinem Kind dort so gut gefallen hat, war ich da auch. Aber ehrlich: Mutter-Kind-Gruppen sind nichts für mich. ich fühlte mich dort zwar wohl, aber ein Netz hat sich dort nicht ergeben. Lose Bekanntschaften zu Müttern, ja sicher.
Den Versuch “Nutze den Elternbeirat in der KiTa zum Netzwerken” habe ich ausgelassen. Ob die Schule da gewinnt, wird sich erst in den nächsten Jahren zeigen.
Stabile Clan-Beziehungen haben sich erst auf anderen Wegen ergeben:
- über ehrenamtliche Arbeit als Stillberaterin der AFS
- über lose Treffen der “Frauen” der ansässigen Hausgeburtshebamme
- über die Einbindung in ein regionales Tragetreffen
- Facebook – ja, natürlich, was sonst?!
- (inzwischen arg gelockert, aber weiterhin lose verknüpft) eine virtuelle Müttergruppe, die sich über ein privates Forum organisiert – mit Kindern, die alle im November 2008 geboren sind
Wider erwarten ist mir bei diesen “Anlässen” das Knüpfen neuer Kontakte leichter gefallen. Warum? Weil “Du hast ein Kind, ich hab ein Kind – lass uns Freundinnen sein” nicht ausreicht. Weitere Berührungspunkte (Hausgeburt, Stillberatung, ATTAbeeing, AP als Familienbasis) waren notwendig. Und trockenes Netzwerken nur um des Netzwerkens willen ist nichts, was ich beruflich anstrebe. Auch hier war die Beteiligung in gemeinsamen Gremien, die Wahl verschiedener Verbände und Vereinigungen der erste Punkt, mich in Kontakt mit interessanten Menschen zu bringen. Schritt für Schritt das Netzwerk aufbauen war hier die richtige Wahl. Langsam und gezielt. Und ich trenne mich durchaus auch von Menschen, die mir und meinem Netzwerk nicht gut tun.
Ich erwähne hier ausdrücklich nicht die eigentliche Familie: Ich setze einfach mal voraus, dass Eltern, Geschwister, Tanten & Onkel soweit gewollt und machbar, als “Clan” betrachtet werden. Da immer mehr Familien dezentral verteilt sind, ist es aber nicht mehr sonderlich wahrscheinlich. Bei mir liegen 600km bis 800km zwischen meinen verschiedenen Familienangehörigen. Treffen 1-3 Mal im Jahr sind schon viel.
Was bringt mir der Clan?
Clans sind keine Magie, die plötzlich das Leben mit Kind leicht und luftig machen. Beileibe nicht. Ein bisschen kann so ein moderner Clan trotzdem leisten:
- Support/Rat/Hilfen – praktisch vor Ort:
kurzfristiger Babysitter, wenn in der Arbeit wichtige Termine anstehen
Kinderbespaßung, wenn der betreuende Elternteil wegen Krankheit ausfällt – oder auch, wenn die Akkus einfach leer sind
gemeinsame Aktivitäten wie Ausflüge, Treffen
…. - Support/Rat/Hilfen – virtuell
Informationen, Erfahrungen, Hinweise, virtuelles Zuhören/Dasein - Ansprechpartner, wenn gerade alles zuviel wird, wenn die Akkus leer gelaufen sind
- Anteilnehmer, wenn es gerade etwas Tolles zu berichten gibt
- …. (was fällt euch noch ein? Ich ergänze gern!)
Was leisten Clans nicht?
Mein überwiegend virtuell organisierter Clan kann selten mal eben mit Kuchen vor der Tür stehen, wenn ich das gerade brauche. Manchmal geht das – mit Einigen. Oft sind längere Planung und Fahrten notwendig, damit man sich ganz real sieht.
Virtuelle Clans ersetzen auch keine tragfähigen persönlichen Bindungen – dafür braucht es gemeinsame Erlebnisse, die über einen Gruppenchat, eine angeregte Gruppenteilnahme hinaus gehen. Um es ganz deutlich zu sagen: 200 mitfühlende Kommentare in einer Facebook-Gruppe helfen mir so gar nicht, wenn mein krankes Kind sich nicht ablegen lässt, während eine wichtige Präsentation gemacht werden muss. Da braucht es direkt und vor Ort Personen, die einfach auch zupacken.
Praktisches
- Google Suchwort: “Notmütterdienst” oder “Leihoma” plus Region; gibt es schon in vielen Ecken Deutschlands und hilft kurzfristig bei der Vermittlung von Tagesmüttern, Haushaltshilfen, Babysittern, Leih-Großeltern …
- Google Suchwort:: “Eltern-Kind-Büros” – da finden sich auch jede Menge nette Menschen, die alle in einer ähnlichen Situation stecken: gemeinsam Kinder aufziehen und Erwerbsarbeit verfolgen
- vor Ort in der Gemeinde: “Projekt soziale Stadt” oder “Koordinierende Kinderschutzstelle” oder “Pfarramt” oder “Nachbarschaftshilfe” – wird in vielen ländlichen Gemeinden angeboten und springt ebenfalls ein, wenn noch kein Netz da ist zum Auffangen
- Wellcome-Dienste (vor allem für Wochenbett, bei Schreibabys)*
- VAMV (Verband für Alleinerziehende)*
- Kinderschutzbund haben teilweise auch Hilfsangebote (vom Babysitten bis zur Hausaufgabenbetreuung)*
*danke an Tanja für die Hinweise!
Hy, hier schreibt Sabrina. Freiberuflich als Copywriterin anzutreffen, mit Mann & zwei Kindern in enger Gemeinschaft. Feministisch, bindungsorientiert & zutiefst sarkastisch. Bekennende #coffeeholic
Zum Thema Praktisches/Ansprechpartner: Wellcome-Dienste, VAMV (Verband für Alleinerziehende) oder der Kinderschutzbund haben teilweise auch Hilfsangebote (vom Babysitten bis zur Hausaufgabenbetreuung).
LG
Tanja
Ah, danke dir für die Hinweise. Hab ich direkt mit aufgenommen!